Die Kunstgeschichte von Imst kann auch als ein Stück Kirchengeschichte betrachtet werden. Eine Figurengruppe mit der interessanten Fachbezeichnung „Anna selbdritt“ befand sich ursprünglich am gotischen Annenaltar der Pfarrkirche und wird heute im Museum im Ballhaus aufbewahrt. Die Plastik stammt von Jörg Lederer (ca. 1470-1550 in Kaufbeuren), der sie – genauso wie ein Pendant in der Pfarrkirche von Reutte – in der Zeit zwischen 1515 und 1520 schuf.
In der christlichen Malerei und Plastik ist Anna selbdritt die Bezeichnung für einen Kompositionstyp, bei dem die heilige Anna, die Muttergottes und das Jesuskind zu einer Darstellungseinheit zusammengeführt werden. Das Motiv gehört zur Gruppe der Andachtsbilder und war im späten Mittelalter im deutschsprachigen Raum besonders häufig. Dem gläubigen Christen dienen Andachtsbilder als Anregung für das Gebet. In ihrer Anschaulichkeit erfüllen sie den Zweck, das Mitgefühl des Betenden zu wecken. Im Fall des Bildthemas der Anna selbdritt richten sich Andacht und Mitgefühl auf das Prinzip der Mütterlichkeit und auf die Schmerzen, denen die Mütter Anna und Maria angesichts des späteren Leidens Christi ausgesetzt sein sollten.
Die Verehrung der hl. Anna erfuhr durch die Aufnahme des Anna-Tages in den römischen Heiligenkalender durch Papst Sixtus IV. (1481) und die Einführung des Anna-Festes durch Papst Gregor XIII. (1584) große Popularität. Das erklärt auch die schwunghafte Zunahme von Annen- bzw. Anna selbdritt-Darstellungen gerade in der Zeit von 1500 bis ca. 1600 in Tirol. In diesem Zusammenhang dürfte wohl auch der Begriff „selbdritt“ für „zu dritt“ entstanden sein.
Da es in der Bibel keine Quellen über die Existenz von Marias Eltern gibt, bezogen sich die Künstler bei der Gestaltung von Themen aus dem Marienleben auf Vorlagen aus den so genannten Apokryphen bzw. der Legenda aurea des Jacobus de Voragine. In diesen Legenden wird u.a. über einen betagten Tempelpriester Joachim berichtet, der nach langer Ehe mit seiner Frau Anna immer noch kinderlos war und dessen Opfer im Tempel aus diesem Grund von seinem vorgesetzten Priester abgelehnt wurden. Daraufhin erschien sowohl Joachim als auch Anna ein Engel, der ihnen die Geburt ihrer Tochter Maria weissagte. Auf der Basis dieser Geschichte wurden Joachim und Anna zu Großeltern Christi erklärt. Es existieren aber noch weitere Ausschmückungen der Legende, z.B., dass Anna nach dem Tod Joachims noch zwei weitere Male geheiratet haben soll (ihre späteren Ehemänner Kleophas und Salomas werden oft auf Abbildungen der „Heiligen Sippe“, der Darstellung der Verwandten Jesu, wiedergegeben).
Von dem im Allgäu tätigen Jörg Lederer bzw. aus seinem Umkreis sind im Tiroler Oberland und im Außerfern mehrere Annen-Plastiken erhalten. Neben den Anna selbdritt-Darstellungen von Imst und Reutte gibt es auch eine hl. Anna mit Maria als Kind, die im Museum von Stift Stams aufbewahrt wird. Eine weitere, um 1500 entstandene Anna selbdritt-Darstellung in einer Kirche bei Serfaus stammt ebenfalls aus Süddeutschland. Letztere kann zwar nicht mit dem Bildschnitzer Jörg Lederer in Verbindung gebracht werden, ist aber erwähnenswert, weil sie zu den ältesten derartigen Plastiken in Tirol gehört.
Jörg Lederer, der Schöpfer der Anna selbdritt-Figurengruppen in Imst und Reutte, stammte vermutlich aus Kaufbeuren oder Füssen. 1499 wird er als Holzbildhauer-Meister und Bürger in Füssen genannt, wenig später übersiedelte er nach Kaufbeuren. Dort kaufte er sich in die Kramerzunft ein und betrieb eine florierende Schnitzwerkstatt mit mehreren Gesellen und nachrangigen Meistern. Als angesehener Bürger bekleidete er auch öffentliche Ämter. Lederer bzw. seine Werkstatt lieferten Skulpturen bis nach Südtirol und nach Savoyen.
Bei einem Vergleich der aus Lindenholz geschnitzten Anna selbdritt-Skulpturen von Imst und Reutte fällt auf, dass die Figurengruppen einen höchst unterschiedlichen Erhaltungszustand aufweisen. In Bezug auf die Imster Plastik ist das wahrscheinlich auf Überarbeitungen im Barock zurückzuführen. Denn in dieser Epoche kleidete man häufig ältere Figuren in barocke Prachtgewänder. Dabei handelte es sich um eine Praktik, die dazu diente, älteren verehrungswürdigen Kultobjekten eine am Zeitgeschmack ausgerichtete Note zu verleihen.
Einen Hinweis darauf gibt vor allem das nachträgliche „Überschnitzen“ der Marienfigur, deren Taille und Rückenpartie für das Prunkgewand adaptiert werden mussten. Auch der Kopf der Maria scheint einem heutigen Betrachter nüchtern und kahl. Es ist aber anzunehmen, dass diese Figur in der Barockzeit eine Echthaar-Perücke trug. Bedauerlicherweise ist der Imster Figurengruppe mit den Jahrhunderten auch das Jesuskind abhanden gekommen. Dennoch bleibt an den Gesichtern der Plastik die „geistige Entrücktheit“ gut nachvollziehbar. Diese Art der Weltabgewandtheit gehört zu den wichtigen Merkmalen aller Andachtsbilder in der christlichen Kunst. Obwohl die Künstler die Figuren auf ihren Bildern und Skulpturen oft mit stark bewegtem Faltenwurf – vgl. das Kopftuch der hl. Anna der Imster Figurengruppe – ausstatteten, charakterisiert ihre Körperhaltung und ihr statischer Gesichtsausdruck eine ganz dem Himmel zugewandte Transzendenz.