Die Friedhofskapelle zu den Heiligen Michael und Veit in Schwaz gehört zu den sehenswertesten Sakralbauten aus der Gotik in Tirol. Ihr Bau geht auf Christof Reichartinger (um 1450-1514), Sohn des Innsbrucker „Hofwerkmeisters“ Hans Reichartinger (gest. 1469/1470), zurück. Seine Aufgabe bestand nicht so sehr in der architektonischen Lösung eines Baues, sondern vielmehr in seiner dekorativen Ausgestaltung mit Steinmetzarbeiten. Nichtsdestoweniger ist auch das Gebäude der Schwazer Friedhofskapelle ein bemerkenswertes Baudenkmal: Es verfügt über zwei Ebenen mit je einer Kapelle. Der Schutzheilige des unteren Sakralraumes ist der Erzengel Michael. Als „Seelenführer“ geleitet er die Verstorbenen an den Ort der Verheißung (= das Paradies). Der obere Raum ist dem insbesondere als Feuerpatron verehrten Veit geweiht. Der hl. Veit soll in einem Kessel gekocht worden sein, diese Qual aber unbeschadet überstanden haben, weshalb er als Fürsprecher der im Schwazer Bergbau tätigen Schmelzer galt. Beide Kapellen verbindet eine Stiege, die der zuletzt umgesetzte Bauteil war. Der Handlauf der Treppe ist mit spätgotischen Steinmetzarbeiten verziert, darunter auch ikonografischen Seltenheiten, nämlich zwei Kröten, einer Eidechse und einer Schlange.
Christof Reichartinger hatte in Schwaz bereits mehrere Sakralbauten realisiert, als er mit der Errichtung der Michaels- und Veitskapelle begann. Zu den wichtigsten seiner Projekte in der Silberstadt zählen die Pfarrkirche, die Franziskanerkirche und die Klosterkirche St. Martin. Der Bau der von der Knappenschaft gestifteten Totenkapelle zu den Heiligen Michael und Veit an der nördlichen Friedhofsmauer bei der Pfarrkirche bildete den krönenden Abschluss seiner Tätigkeit in der Unterländer „Bergwerksmetropole“.
Sowohl die untere Michaelskapelle als auch die obere Veitskapelle wurden vierjochig ausgeführt. In der Barockzeit wurden aus beiden Sakralräumen die Netzrippengewölbe entfernt. Nach eingehenden Befundungen (= Untersuchungsergebnissen) durch die Mitarbeiter des Bundesdenkmalamtes konnten diese aber bei den jüngsten Restaurierungen rekonstruiert werden.
Ein besonders hervorhebenswertes Detail der Schwazer „Doppelkapelle“ ist der mit Kreuzrippen versehene Stiegenaufgang. Er besteht aus einer Treppe mit vier offenen Arkaden, die an ihrem oberen Ende zum Eingang der Veitskapelle überführt. Das Portal der Veitskapelle wurde mit einem Rundbogengewände ausgestattet, dessen Stäbe sich am Bogenscheitel überkreuzen – ein für die Steinmetzarbeiten Reichartingers typisches Element. Auch die Bögen der Arkaden weisen Rundstäbe und Kehlen auf. Der unterste Arkadenbogen wurde rechts neben der Konsole mit einem Bindenschild verziert.
Die reizvollsten Einzelteile des Aufgangs sind aber die aus dem Handlauf heraus gemeißelten Tiersymbole. Bei den Plastiken handelt es sich um Memento-mori-Motive. Das Gestein, aus dem sie gearbeitet wurden, ist ein anthrazitfarbener Dolomit, der bis in die jüngste Vergangenheit am Ortsrand von Schwaz abgebaut wurde. Die dargestellte Schlange, die Eidechse und die zwei Kröten sind seltene Darstellungen im Bereich des Sakralbaus, weil sie traditionell für unrein gehalten wurden.
In der Geisteshaltung des ausgehenden Mittelalters stellten z.B. Eidechsen Verkörperungen des Bösen dar, weil es im Buch Levitikus 11,29 ff. heißt: „Unter dem Kleingetier, das auf dem Boden kriecht, sollt ihr für unrein halten den Maulwurf, die Maus und die verschiedenen Arten von Eidechsen“. Zu den unreinen Tieren zählte zwar auch die Kröte, sie versinnbildlichte aber nicht nur Unreinheit. Z.B. befindet sich ein Pendant zu den Schwazer Krötendarstellungen auf der Kanzelstiege des Wiener Stephansdomes, wo ihre Abbildung (wie auch die der Eidechse und Schlange) schlechte Gedanken versinnbildlicht, die durch das Wort Gottes vertrieben werden. Das Motiv der Kröte ist aber auch deshalb interessant, weil es – als „Bärmutter“ bezeichnet – für die menschliche Gebärmutter stand und somit als Symbol für Fruchtbarkeit und Wiedergeburt angesehen wurde.
Die Schlange ist ein in der Bibel vielfach wiederkehrendes Tiersymbol, u.a. weil sie aufgrund der Fähigkeit, sich zu häuten, das Prinzip der Lebenserneuerung versinnbildlichte. Daneben stand die Schlange aber auch für das Böse und die Verführung, was auf den Sündenfall im Buch Genesis 3,1 zurückgeht. In der mittelalterlichen Geisteswelt wurde sie wegen ihrer gespaltenen Zunge bzw. ihres Züngelns auch mit Falschheit und Zwietracht in Verbindung gebracht.