Der Tiroler Fotograf Wilhelm Angerer (1904-1982) ist in der österreichischen Geschichte der Fotografie vor allem für seine alpinen Landschaftsdarstellungen bekannt, in denen er sich auf wenige Bildelemente konzentriert und dadurch ungewöhnliche abstrakte Ausschnitte erreicht.
Wilhelm Angerer stammt aus Schwaz, besucht die Staatliche Höhere Fachschule für Phototechnik in München und eröffnet 1933 ein Fotogeschäft in Kitzbühel. In dieser Zeit entstehen Reportagen vom Leben der Leute aus der Umgebung. Er arbeitet mit der Leica-Kleinbildkamera und legt als Beobachter des bäuerlichen Alltags eine umfangreiche Sammlung mit volkskundlicher Thematik an.
In der vom Tiroler Kunstkataster durchgeführten Bestandserhebung des Gesamtwerkes von Wilhelm Angerer befinden sich rund 60 dieser collageartig gestalteten Reportagen. Eine davon dokumentiert einen Viehmarkt in Kitzbühel aus dem Jahr 1934. Der Fotograf hat dafür 18 Schwarzweiß-Vergrößerungen (ca. 9×12 cm) auf neun Papierbögen montiert und die Bildabfolge mit Begleittexten handschriftlich kommentiert.
Obwohl Angerer die Reportagen nie veröffentlicht hat, ist interessant, dass er sich im Begleittext in direkter Anrede an einen fiktiven Betrachter und Leser wendet: „Wanderer, wenn Du in die Berge kommst und es begegnen Dir auffallend viele Bauern mit der besonderen Ausrüstung eines Stockes, so wisse, daß hier unweigerlich ein Viehmarkt in der Nähe ist.“ In der Folge entwickelt Angerer eine Geschichte rund um den Viehmarkt, in der er das karge und entbehrungsreiche Leben der Bauern dem städtisch geprägten Charakter des Viehhändlers gegenüberstellt. Abschließend betont er das Authentische seiner Reportage: „Hier fandest Du das Volk ohne Schminke, ohne Mache seinen erhaltenden Teil noch, Menschen wie sie sind. Reale Gründe sind es was sie hier zusammenführt. Du findest hier den tragenden Grund der Lebensnotwendigkeit.“
Die Kommentare und Fotografien sind Ausdruck einer Geisteshaltung Angerers, in der er verstärkt die bäuerliche Welt idealisiert. Dem Zeitgeist entsprechend entwickelt er Respekt und Bewunderung für die bäuerliche Kultur. Die intensive Auseinandersetzung mit der Lebenswelt des Bauern und der umgebenden alpinen Natur zählt zu den Eigentümlichkeiten der österreichischen Fotografiegeschichte. Es ist dies eine spezifisch österreichische Variante einer fotografischen Sichtweise, die – in Deutschland als „Heimatfotografie“ geläufig – vor allem als Phänomen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu betrachten ist.
Ein Grundzug in der fotografischen Interpretation bäuerlicher Wirklichkeit ist oft eine romantisierende und verklärende Haltung, die das ländliche Leben als Gegenwelt zu einer von entfremdeter Arbeit geprägten städtischen Lebensweise begreift. Zunehmende Industrialisierung und Technisierung sowie die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs verstärken diese Hinwendung der Fotografen zu Natur und Landleben. Mit der leichteren Handhabung fotografischer Apparate werden diese Gegenbilder der Zivilisation zu beliebten Motiven. In zahlreichen Bildbänden und Zeitschriften verbreitet, schaffen sie eine idealisierte Realität, dokumentieren aber kaum die konkrete Wirklichkeit des bäuerlichen Alltags.
Wilhelm Angerers Bildreportagen wirken wie eine Flucht in eine bäuerliche Welt, die als zeitlos, mit der Natur verbunden und unverfälscht dargestellt wird. In diesem nostalgischen Rückzug vor den Prozessen der industriellen Modernisierung wird eine Atempause von der realen Gegenwart vermittelt.