In Hall in Tirol wurden 2003 in einem Wohnhaus der mittelalterlichen Altstadt profane Fresken wiederentdeckt, auf denen neben floralen Mustern, Spielleuten und Narren auch ein Jongleur zu sehen ist. Die Figur des Akrobaten ist deshalb bemerkenswert, weil an seiner Kleidung besonders spitz geformte Schnabelschuhe sofort ins Auge stechen.
Kulturhistorische Zusammenhänge lassen sich in Tirol im Bereich der spätmittelalterlichen Kunst besonders anhand des Themas Kleidung anschaulich darstellen, weil sich hier ausländische Einflüsse schnell manifestierten. Einerseits ist das auf die Verbindungen Kaiser Maximilians I. (1459-1519) mit Burgund zurückzuführen, wo strenge Kleiderregeln ebenso herrschten wie ein extremer Hang zur Prachtentfaltung, andererseits auf die regen Handelsverbindungen nach Italien und vor allem nach Süddeutschland, wo manche aus Frankreich kommende Moderichtung bestehende Kleiderordnungen rasch unterwanderte.
In der europäischen Mode- bzw. Kostümkunde nimmt Deutschland im Spätmittelalter eine Sonderstellung ein, weil durch das Fehlen eines tonangebenden Hofes wie z.B. in Burgund sowie durch das Erstarken des Bürgertums in den Städten eine isoliert zu sehende Entwicklung eingeleitet wurde. Z.B. heißt es, dass in keinem anderen Land die Männer so tief dekolletiert, ihre Hosen so knapp und die Schnäbel der Schuhe so lang gewesen seien wie hier.
Durch die geografische Nähe zu diesem Kulturraum gelangten viele Strömungen auch rasch nach Tirol. Die im Jahr 2003 wiederentdeckten, in Seccotechnik ausgeführten Wandmalereien in einem Haller Stadthaus füllten ursprünglich alle Zimmer des Piano nobile aus. Sie wurden aber nur stellenweise freigelegt, um eine weitere Nutzbarkeit des Gebäudes als Wohnhaus zu ermöglichen. Die Wanddekorationen umfassen spezifische Motive, darunter besonders zarte und fantasievoll gestaltete Rankenmalereien, Narren, Spielleute und einen Jongleur (Höhe ca. 66 cm, Breite ca. 40 cm). Es scheint, als würde der Artist auf den Ranken tanzen, wobei seine eng anliegenden, roten Kleider und seine schwarzen Schnabelschuhe besonders auffallend sind. Er trägt Beinlinge und ein eng anliegendes Wams – beides Kleidungsstücke, die ganz dem Zeitgeschmack des ausgehenden 15. Jahrhunderts entsprachen:
Im Bereich der Kleidung des Spätmittelalters sind verschiedene Neuerungen auszumachen, die mit dem Auftreten eines völlig neuen Körpergefühls in Zusammenhang stehen. Der neue Geist ist übrigens auch an der zeitgleich auftretenden Harnischmode unübersehbar. Denn, nachdem die Kleidung des mittelalterlichen Menschen von weit herunterhängenden, schweren und manchmal in der Taille gegürteten Mänteln geprägt war, ist am Ende dieser Epoche ein neuer Trend hin zu allergrößter Körperbetonung zu erkennen. Zunehmend wurden Kleidungsstücke modern, die dazu beitrugen, den Körper plastisch zu modellieren, wobei eine schlanke Taille und vor allem überlange Proportionen – wie auf der Abbildung des Jongleurs wiedergegeben – als besonders modisch galten.
Der Wunsch, bestimmte Körperteile, wie Arme oder Beine, der langen, schlanken Form anzupassen, ging gegen Ende des Mittelalters geradezu ins Uferlose. Z.B. nahm die seit dem 13. Jahrhundert gebräuchliche, spitz zulaufende Form der Schuhe etwa hundert Jahre später Ausmaße an, die an rattenschwanzähnliche Fortsätze erinnern. Das Kleidungsstück ist unter der Bezeichnung Schnabelschuh bekannt geworden. Zur Fixierung der schlanken Form wurde der vor den Zehen liegende Teil des Schuhes mit Wolle ausgestopft, manchmal mit nach oben gebogener Spitze. Das Schuhmodell war aber so unpraktisch, dass unter den Sohlen deckungsgleiche Unterschuhe getragen werden mussten. Diese Unterschuhe nannte man „Trippen“ und sie bestanden aus Holz. Schnabelschuhe mit Trippen waren natürlich nur für Fußgänger gedacht, die sich mit ihren Absätzen gleichzeitig vor dem Schmutz auf den Straßen schützen wollten.
So bizarr diese Mode aus heutiger Sicht auch anmuten mag, man darf ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht unterschätzen: Diese weit verbreitete Schuhform war nämlich nicht mehr für Reiter bestimmt. Schnabelschuhe stehen für ein modisches Element um 1500, für dessen Entstehung nicht mehr das Rittertum und der Adel tonangebend waren, sondern die städtische Bevölkerung – und das bedeutete zugleich, dass mit dem Erstarken des Bürgertums auch das Mittelalter auf sein unwiderrufliches Ende zuging.