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Villa in Reutte – ein fünfeckiger Baumeisterentwurf aus der Zwischenkriegszeit (um 1930)

Außerhalb des Ortszentrums von Reutte befindet sich eine Villa mit Garten, die um 1930 von einem bis dato leider kaum greifbaren Baumeister namens Alfons Kerle verwirklicht wurde. Kerle stattete das Einfamilienhaus mit einer besonders ansprechenden Architektur und manche Räume mit eigens für sie geschaffenen Einrichtungen aus.

Eine Auseinandersetzung mit Bauten aus der Zwischenkriegszeit ist u.a. auch deshalb lohnend, weil nicht nur ihre Architektur den Grundgedanken der Raumkonzeption der klassischen Moderne – Klarheit und Zweckmäßigkeit – entsprach, sondern auch ihre Innenraumgestaltung. In der Periode zwischen 1919 und 1939 entstanden beispielsweise Villen, Wohnanlagen, Hotels und Seilbahnbauten, denen eine ganzheitliche Auffassung von architektonischer Gestaltung zugrunde lag. Sie wurden nicht nur in baulicher Hinsicht realisiert, sondern mitunter auch mit einer von der „Türklinke bis zum Schlafzimmer“ reichenden Innenausstattung. Die Einbauten und das Mobiliar der Gebäude wurden an der Schwelle zwischen Einzelanfertigung und Massenproduktion hergestellt. Daher würde man die von den Baumeistern, Tischlern und Architekten minutiös entworfenen Baudetails heute als „Design“ bezeichnen.

In Bezug auf die Architektur der Zwischenkriegszeit in Tirol fällt auf, dass viele der Bauten nicht von Architekten stammen, sondern von planenden Baumeistern. Das ist darauf zurückzuführen, dass es an der Universität Innsbruck bis in die jüngere Vergangenheit nicht möglich war, das Fach Architektur zu belegen. Überdies fehlten den meisten Baumeistern der Zwischenkriegszeit die finanziellen Mittel, um auswärts zu studieren. Dennoch hatten sie an den Gewerbeschulen (heute Höhere Technische Lehranstalt) eine auch in künstlerischer Hinsicht solide Ausbildung erhalten. Aus diesem Grund konnten viele der damals in Tirol tätigen Baumeister auf ein respektables Werk als Architekten verweisen. Gemäß ihrem Selbstverständnis als Planer bezeichneten sie sich auch als „Architekten“ – eine damals noch nicht geschützte Berufsbezeichnung. Neben Alfons Kerle sind in diesem Zusammenhang insbesondere Theodor Prachensky (1888-1970), Franz Baumann (1892-1979) und Siegfried Mazagg (1902-1932) zu nennen.

Das von Alfons Kerle entworfene Einfamilienhaus entstand außerhalb des Ortszentrums von Reutte in einer Gegend mit Villen und Gärten. Er konzipierte das Haus über annähernd fünfeckigem Grundriss und schloss es nach oben hin mit einem Zeltdach ab. An drei Seiten rundete er das Gebäude ab und nützte das dazu, um für die Bewohner behagliche Räume mit guter Aussicht in den Garten zu schaffen. Bei einem Studium der Pläne und des Schnittes durch das Gebäude bemerkt man, dass Kerle eine genaue Vorstellung davon hatte, wie die Räume einzurichten waren. Z.B. konzipierte er den Eingangsbereich so, dass Stiege, Eingangstüre, Windfang, Diele (Vorzimmer) und Treppe in das Obergeschoss in einem spiralförmigen Verlauf hintereinander angeordnet sind.

Ein Vergleich zwischen dem Schnitt und einem Foto führt vor Augen, dass Kerle die Treppenkonstruktion in Weiterverfolgung der Idee von der Spirale ebenfalls als eine sich nach oben windende Schraube ausbildete. Ihre Umsetzung erfolgte dann in feiner handwerklicher Maßarbeit. Die Eleganz der Treppe rührt vom formvollendet gekrümmten Stiegenabsatz und dem farblichen Kontrast zwischen Treppe und Handlauf her. Die Stäbe des Geländers wurden von Kerle dicht aneinander gereiht, was dazu führte, dass die Treppe auch als Raumabschluss der Diele – sozusagen als Seitenwand – wahrgenommen wird. Bemerkenswerterweise änderte Kerle im Obergeschoss das Aussehen des Geländers und legte Wert auf eine horizontale Betonung der Windung des Stiegenverlaufs. Wahrscheinlich wendete er diesen Kunstgriff an, um hier das Thema der Spiraldrehung optisch zur Geltung zu bringen.

Aufgrund der abgerundeten Fünfeck-Konzeption des Baues verfügen neben der Diele das Herrenzimmer und der Wohnraum über besonders ungewöhnliche Grundrisse. Im Wohnzimmer bot die polygonale Grundform beispielsweise die Möglichkeit, den Raum behaglich einzurichten: Als markantes Element setzte Kerle einen Kachelofen so in den Raum, dass er zur Bildung einer Raumnische mit Esstisch dient. Gegenüber dem Essplatz ordnete er eine gemauerte Aussparung an, die er schon im Bauplan mit „Sofanische“ bezeichnete. Hier sollte ein die gesamte Aussparung ausfüllendes Tagesbett (auch „Daybed“) zur Aufstellung gelangen – ein niedriges, gepolstertes Sofa, für das in der Zwischenkriegszeit der Begriff „Ottomane“ gebräuchlich war.